Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADHS)

ADHS ist in den letzten Jahren deutlich bekannter geworden. Dass ADHS auch Erwachsene betrifft, zeigte sich in der Forschung in etwa zur Jahrtausendwende. Bis diese Erkenntnis in der klinischen Praxis, also bei Ärzten und Psychologen angekommen war, dauerte es naturgemäß noch etliche Jahre.
Seit 2022 haben die sozialen Medien (Instagram, TikTok, Facebook) das Thema auf unterhaltsame Weise in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht. Unser Eindruck ist, dass viele erwachsene Betroffene erst durch soziale Medien erkennen, was sie schon ihr ganzes Leben lang belastet hat und dass diese Belastung nicht zwingend einfach so hingenommen werden muss. Dies führt zu einer steigenden Nachfrage nach Diagnostik.
Im deutschsprachigen Raum sind viele Ärzte und Psychologen mit ADHS bei Erwachsenen noch nicht in dem Maße vertraut, wie es für eine Störung angemessen wäre, die 8 bis 12 % aller Kinder und 5 bis 8 % aller Erwachsenen betrifft. Wir sehen allerdings, dass immer mehr Ärzte und Psychologen die Problematik erkennen und dass es inzwischen eine wachsende Anzahl an Ärzten und Psychologen jenseits der renommierten Spezialisten gibt, die über ADHS hervorragend informiert sind und auch schwierige Problemstellungen sehr gut lösen. Zitat: https://www.adxs.org/de

 

Die drei Hauptsymptome

Unaufmerksamkeit: bezieht sich auf eine große Schwierigkeit, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, eine Schwierigkeit, die sich in Ablenkbarkeit, Überempfindlichkeit gegenüber äußeren Reizen und einem Aufmerksamkeitsdefizit äußert (d. h. Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit bei langwierigen und potenziell uninteressanten Aufgaben für die Person).

Bei Erwachsenen ist das Aufmerksamkeitsdefizit ein Symptom, das sich vor allem in einem Mangel an Aufmerksamkeit und exekutiven Funktionen, einschließlich Entscheidungsfähigkeit und Arbeitsgedächtnis, äußert. Letzteres hat erhebliche Auswirkungen auf die Ausführung der täglichen Aktivitäten im Leben eines Erwachsenen. (mehr über exekutive Funktionen)

Bei den exekutiven Funktionen handelt sich also um die höheren mentalen und kognitiven Prozesse, die der Selbstregulation und zielgerichteten Handlungssteuerung des Individuums in seiner Umwelt dienen. Die exekutiven Funktionen können zusammenfassend als diejenigen psychischen Fähigkeiten verstanden werden, „die der Ausführung von Handlungen unmittelbar vorangehen oder sie begleiten“. Auch Selbstmotivation, die Willensbildung und der Anstoß zum Beginnen einer Handlung (Initiative) werden den exekutiven Funktionen zugerechnet.

Die exekutiven Funktionen sind überall im Alltag von zentraler Bedeutung: Sie sind unverzichtbar für eine eigenständige Lebensführung und machen Selbstdisziplin, gutes Zeitmanagement, Umsetzungsstärke und Belohnungsaufschub erst möglich. Einschränkungen in den exekutiven Funktionen sind für vielfältige Probleme in Studium/Ausbildung und Beruf verantwortlich. Selbstkontrolle und Selbstregulation ist genetisch und nicht erworben oder erlernt und schon gar nicht einem fehlenden Willen geschuldet. Link zu einem Film
 
Hyperaktivität: Dies ist ein Symptom, das in den verschiedenen Lebensabschnitten sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Im Erwachsenenalter bezieht sie sich nicht so sehr auf die Verhaltenshyperaktivität, wie bei einem Kind mit ADHS, das sich motorisch nicht beherrschen kann, sondern auf innere Anspannung und Erregung, Unruhe und die Unfähigkeit, sich zu entspannen. Man kann also sagen, dass sich Hyperaktivität bei Erwachsenen durch eine beschleunigte Verbalisierung, die Unfähigkeit, Wendungen einzuhalten, und eine starke Desorganisation bemerkbar macht.

Impulsivität bezieht sich auf die Verhaltenstendenz, die dazu führt, dass erwachsene Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung nach sofortiger Belohnung streben und nicht in der Lage sind, unangemessenes oder unerwünschtes Verhalten zu unterdrücken. Interessanterweise sind es gerade impulsive Verhaltensweisen, die eine Unterscheidung zwischen ADHS und bipolarer Störung, Borderline-Persönlichkeitsstörung oder anderen Störungen erschweren, da sie beispielsweise zu schnell abgebrochenen und ersetzten Liebesbeziehungen, ungerechtfertigten Kündigungen und riskantem (sensationslüsternem) und unverantwortlichem (z. B. übermäßigem Konsum) Verhalten führen. Betroffene reagieren im Alltag oft mit übermäßiger Aggression, wenn sie warten müssen, etwa in der Schlange im Supermarkt, beim Arzt, im Stau oder bei Zugsverspätungen, wobei sie auch ihre eigenen Aufgaben und Tätigkeiten aus Ungeduld oft schnell aufgeben. Sie unterbrechen Gespräche oder vervollständigen Sätze, die der Gesprächspartner noch nicht zu Ende gesprochen hat, sind also nicht in der Lage, Gesprächspausen abzuwarten, sondern haken sofort ein oder beginnen zu sprechen, bevor der oder die andere noch ausgesprochen hat. Manchmal lassen sie andere Menschen oft gar nicht zu Wort kommen und beantworten Fragen, bevor diese überhaupt gestellt sind. Sie sind meist auch nicht in der Lage, den eigenen Redefluss zu stoppen, oder sie sprechen, ohne vorher viel nachzudenken. Sie mischen sich ungefragt in Gespräche oder soziale Situationen anderer Menschen ein oder äußern ungefragt ihre Meinung zu allen Themen. Meist fällt es den Betroffenen auch schwer, generell die Grenzen anderer Menschen zu respektieren. (Stangl, 2025, https://lexikon.stangl.eu/989/aufmerksamkeitsdefizit-hyperaktivitaetssyndrom-adhs.).

ADHS ist nicht auf eine einzelne Ursache zurückzuführen, sondern vielschichtig. Die Ursachen für ADHS liegen auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene. Es kann auch eine genetische Anlage geben, die zu Störungen im Stoffwechsel des Nervenbotenstoffs Dopamin führt. Auch Nikotin-, Alkohol- oder Drogenkonsum der Mutter während der Schwangerschaft wird mit einer späteren Erkrankung des Kindes in Verbindung gebracht. Darüber hinaus scheint es eine Rolle zu spielen, ob das Kind zu früh geboren wurde oder in der frühen Kindheit eine schwere Hirnerkrankung gehabt hat. Oft liegt die Verhaltensauffälligkeit in familiären Schwierigkeiten oder seelischer Überforderung begründet. Ist das Kind von Menschen umgeben, die es ablehnen, bedrohen und bestrafen, verfestigen sich auffällige Verhaltensweisen eher, als wenn es sich geliebt, unterstützt und geborgen fühlen kann. (Stangl, 2025).

 

Schilderungen von Betroffenen

Viele Betroffene berichteten, wie viel Arbeit und Mühe, Kraft und Selbstdisziplin es ihnen kostet, ihre Aufgaben in Studium, Ausbildung, Beruf als auch im Haushalt zu schaffen. Viele neigen zu "Aufschieberitis". Schon immer hätten sie alle Dinge im Last-Minute-Modus gemacht. Sämtliche Umgebungsreize stürmen ungefiltert auf die Betroffenen ein. Sie berichten, dass sie Schwierigkeiten haben, sich auf Details zu konzentrieren. Sie können oft Wichtiges von Unwichtigem nicht unterscheiden. Abschnitte in Büchern oder Zeitschriften müssen mehrfach gelesen werden, um die Inhalte zu erfassen. Auch bei Vorträgen, Konferenzen oder im Büro fällt es ihnen oft schwer, sich über eine längere Zeit zu konzentrieren. Die Gedanken schweifen ab oder kreisen immer um ein bestimmtes Thema. Eine Besonderheit scheint zu sein, dass die Betroffenen nur im Hier und Jetzt zu leben scheinen. Es scheint kein Gestern und kein Morgen zu geben. Alle Pläne von morgen können heute vergessen sein. Das Gehirn ist stets offen für Neues im Hier und Jetzt: eine neue eMail, WhatsApp-Nachricht, Instagram, TicToc, ein Telefonat, eine Kollegin, die zur Tür herein kommt, die Lust auf ein Getränk, Stimmen auf dem Flur etc. - all dies hält von der aktuellen Arbeit ab. Die To-Do´s werden nicht final erledigt. Erschwerend kommt hinzu, dass das Interesse an Themen schnell verloren geht, dass ein Thema rasch langweilig wird und es in der Folge kaum möglich ist, sich auf etwas zu konzentrieren, worauf man keine Lust mehr hat. Das kann in der Schule zu Sitzenbleiben, im Studium und Ausbildung zu Abbrüchen und im Beruf schnell mal zu Abmahnungen führen. Eine Aneinanderreihung Misserfolgserlebnissen ist in Biografien von Menschen mit ADHS nicht selten. 

 

Menschen mit einem Aufmerksamkeitsdefizit haben oft zahlreiche Stärken

Die Betroffenen…
… sind häufig andersdenkend und erfinderisch
… sind oft unkonventionelle, mutige und streiterfahrene Weltverbesserer
… bleiben bei einem Standpunkt, wenn sie davon überzeugt sind
… arbeiten sehr hartnäckig an einer Sache, wenn sie dafür brennen
… haben meist eine besonders genaue Wahrnehmung
… sind oft besonders kreativ und intuitiv
… sind häufig Literaten oder Künstler
… sind besonders ehrlich („tragen das Herz auf der Zunge“)

Ein empfehlenswertes Buch in diesem Zusammenhang ist "Eine andere Art die Welt zu sehen" von Thom Hartmann

 

Unterschiede zwischen Männern und Frauen

Dr. Astrid Neuy-Bartmann gilt seit vielen Jahren als Expertin für AD(H)S  Sie schreibt: "Frauen haben häufiger ein hypoaktives ADS. Es gibt die These, dass bei Frauen das ADS nicht seltener auftritt als bei Männern, sondern dass das ADS des unaufmerksamen Typs häufig unentdeckt bleibt und damit in seiner Bedeutung und Häufigkeit unterschätzt wird. Das ADS des unaufmerksamen Typs zeichnet sich dadurch aus, dass die Hypoaktivität und die Unaufmerksamkeit im Vordergrund stehen, während die Impulsivität nicht stark ausgeprägt ist. Im Lebensverlauf von Frauen zeigt sich das ADS in folgenden Problembereichen

  • Selbstwertgefühl
  • Arbeitsstörungen, Selbstorganisation
  • Beziehungsstörungen
  • Ängste, Depressionen
  • Essstörungen
  • Reifestörung

Man kann vielleicht sehr schematisch und vereinfachend sagen, dass der vom hyperaktiven Typus des ADS-Betroffene die Gefühle in die Welt schleudert. Hierbei nimmt er keine Rücksicht auf die Konsequenzen und explodiert geradezu mit seinen Emotionen. Im Gegensatz dazu implo- diert der hypoaktive ADSler, was bedeutet, dass Betroffene ihre Gefühle „in sich hineinfressen“ und gegen sich selbst richten. Während das hyperaktive ADS laut und ungestüm ist, zu heftig, zu schnell und ungesteuert, ist das hypoaktive ADS genau das Gegenteil – zu leise, zu langsam, abwesend, verdrängend. Der Hyperaktive bebt vor Wut, die Hypoaktive steht unter Tränen.
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass hier nur Stereotype skizziert werden, denn Mädchen können nicht nur die hypoaktive ADS-Form haben, sondern auch hyperaktiv sein. Im Erwachsenenalter ist der Mischtyp, also die Kombination zwischen hyper- und hypoaktivem Typ am häufigsten."

Lesen Sie hier einen aktuellen Artikel zum Thema Geschlechterunterschiede bei ADHS im Erwachsenenalter

Was hilft bei ADHS

Bei Hyperaktivität und Unruhe hilft Bewegung. Im Büro hilft ein höhenverstellbarer Schreibtisch, ein Hüpfball als Stuhl und viel Abwechslung der Aufgaben, der Räume und des Settings. Ansonsten helfen kleine Skills als Beschäftigung der Hände wie Massage-Ringe, Massage-Bälle Therapieknete, Antistressbälle, Zauberwürfel, Floppy-Ketten. Einige Betroffene häkeln, stricken, malen/ kritzeln, bearbeiten Specksteine. 

Impulsivität: ADHSler, die unter starkem inneren Druck leiden, sehr impulsiv und schnell aggressiv werden können, berichten, dass ihnen Sport 3-5x pro Woche sehr hilft. Einige berichten, dass sie durch diesen regelmäßigen Sport ihre Suchtprobleme in den Griff bekommen haben.

Das Aufmerksamkeitsdefizit lässt sich ebenfalls mit vielen Tricks positiv beeinflussen. Hier empfehle ich bei www.studischeiss.de zu stöbern. Es gibt auch Praxen, die sich auf ADHS-Coaching spezialisiert haben. Es lohnt sich, das Funktionieren eines ADHS-Gehirns zu kennen. Daraus können Sie dann logisch ableiten, was Ihnen am besten hilft. Ein Beispiel: Für diejenigen, die sich auf langweiligen Meetings nicht gut konzentrieren können, gibt es eine schöne Idee: Schreiben Sie 10-20 Begriffe auf, von denen Sie erwarten, dass sie im Laufe des Meetings fallen werden. Sobald der Begriff fällt, streichen Sie ihn durch (Erfolg!). So bleibt Ihre Aufmerksamkeit erhalten und Sie haben kurzfristige Ziele, die Sie dann immer wieder erreichen und dafür belohnt werden. Die Motivation bleibt aus, wenn keine Konsequenzen, keine Belohnung erfolgt. (siehe die Bedeutung der exekutiven Funktionen, auch im Film und einem Link unten)

Diagnostik in Baden-Württemberg

 

Weiterführende Links und Buchtipps

https://www.adxs.org/de: ADxS, der Name dieses Projektes, ist ein Kunstbegriff und steht für ADHS als Gesamtheit aller Präsentationsformen (Subtypen) (ADHS-HI, ADHS-C, ADHS-I). Seit dem 13.03.2023 verwendet adxs.org  den Begriff ADHS für die Gesamtheit der Präsentationsformen von ADHS. Während ADHS Deutschland e.V. (www.adhs-deutschland.de) als Interessenvertretung von und für Betroffene insbesondere Beratungsveranstaltungen und Selbsthilfegruppen organisiert, zielt ADxS.org auf eine systematische Darstellung der für das Verständnis von ADHS relevanten medizinischen und neurobiologischen Zusammenhänge ab.

https://gemeinsam-adhs-begegnen.de

https://adhs-deutschland.de/adhs

https://adhs-perspektiven.de/exekutive-funktionen-trainieren/

Video von Russel Barkley (Engl.) "Selbstkontrolle und Selbstregulation ist genetisch und nicht erworben/erlernt!" und welche Defizite entstehen, wenn der Frontallappen nicht funktioniert. https://youtu.be/Illf_Hsy570?si=xyvBYOYMd8SOEBiw

Drei aktuelle SPIEGEL-Artikel (leider nur zu erwerben)

Bücher

  • Eine andere Art die Welt zu sehen von Thom Hartmann (ADHS im Erwachsenenalter)
  • Konzentriert Lernen mit ADHS für Schule und Studium von Sara Dörwald
  • Konzentriert Lernen mit ADHS für Job und Beruf von Sara Dörwald
  • Selbstmanagement im Studium: https://www.studienscheiss.de/buecher/
  • AD(H)S: Die versteckte Kraft in uns - Die Reise vom Chaos zur Selbstakzeptanz im Kontext der Neurodiversität
    von Katharina Schön 
  • Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S: Warum sie so besonders sind und was sie stark macht
    von Christine Carl, Ismene Ditrich
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